11. Mai 2021

3. Internationales Gerodontologie-Symposium live aus Bern

Das Wissenschaftliche Komitee aus Prof. Dr. Frauke Müller (Genf), Prof. Dr. Martin Schimmel (Bern), Prof. Dr. Murali Srinivasan (Zürich) und Prof. Dr. Michael Bornstein (Basel) demonstrierte, dass alle vier Schweizer Universitäten im Bereich der Gerodontologie sehr eng zusammenarbeiten. Die Teilnahme der japanischen Gesellschaft am Kongress spricht für die internationale Zusammenarbeit zwischen Europa und Japan. Der länderunabhängige Ansatz liegt in der sehr wichtigen Interdisziplinarität. Die Anmeldung von 600 Teilnehmern aus 40 Ländern konnten Prof. Frauke Müller (Genf) und Prof. Martin Schimmel (Bern) gleich zu Beginn vermelden. Und sicherlich werden noch viele mehr die Chance nutzen, die Inhalte nachträglich zu verfolgen. Denn diese sind noch für drei Monate on-demand abrufbar.

Was erwartet der Geriater vom Zahnarzt?
Das durchweg spannende Programm startete nach der offiziellen Kongress-eröffnung durch Prof. Claudio Bassetti, den Dekan der Medizinischen Fakultät der zmk bern.
Was der Geriater vom Zahnarzt erwartet, dazu gab Prof. Reto W. Kressig, Professor für Geriatrie aus Basel, einen spannenden Einblick. Der vorherrschende Problemkreis bei der Patientengruppe reicht von Immobilität bis soziale Isolation. Entscheidende Faktoren sind dabei die Ernährung, Mobilität und kognitive Fähigkeiten, auf die er ausführlich einging. So wurde in der bekannten Finger-Studie in Finnland festgestellt, dass eine multidimensionale Intervention mit gesunder Ernährung, regelmässiger körperlicher Betätigung, kognitivem Training und der Behandlung von vaskulären Risikofaktoren entscheidend dazu beitragen kann, die kognitiven Funktionen bei einer Demenz länger zu erhalten und den geistigen Abbau dementsprechend um Jahre hinauszuzögern.
«Seit rund 20 Jahren wissen wir, dass auch der Muskelmas-senabbau und die Muskelkraft mit eingeschränkter Mobilität im Alter einhergeht, dagegen kann eine proteinreiche Ernährung helfen», so Kressig.
Was sich nach der COVID-19-Pandemie ändern wird und welche ethischen Aspekte sich bei der Behandlung betagter Patienten ergeben, dazu wusste Prof. Samia Hurst (Genf) Spannendes zu berichten.

Die seniorengerechte Zahnarztpraxis
Eine seniorengerechte Zahnarztpraxis betreibt Dr. Marcel Z‘Graggen in Chur. Senioren fordern saubere Strukturen und ein grosses fachliches Wissen, aber auch ein interdisziplinäres Netz und oft administrative Höchstleistungen. Die erfolgreiche Betreuung von Senioren braucht ein fundiertes zahnmedizinisches und medizinisches Wissen, der Behandler mit bevorzugt viel Berufserfahrung muss sich fachlich und interdisziplinär vernetzen mit Ärzten, Fachärzten, Apothekern, Spitälern und Psychiatern.
Probleme des Alters sind die Abnahme der manuellen Geschicklichkeit und des Sehvermögens, zunehmende Xerostomie – aber dank funktionierender Dentalhygiene bleibt die Anzahl der Zähne hoch. Das heisst für die Pflege: Das Personal im Pflegeheim ist unter Zeitdruck, oftmals ungenügend ausgebildet und verfügt oft über unzureichendes Hygienematerial. Zustände werden zunehmend komplexer durch Implantate, Prothesen etc. aber auch durch oft wechselndes Pflegepersonal.
Da man heute auch einen Zusammenhang zwischen Parodontitis und neurodegenerativen Erkrankungen, wie Alzheimer und Parkinson, sieht, muss das Pflegepersonal fähig sein, orale Veränderungen zu erkennen.

Erfahrungen einer Zahnärztin auf Achse
Über ihre Erfahrungen als Zahnarzt auf Achse, berichtete Dr. Linda Coletta Fenger, die eine mobile Zahnarztpraxis betreibt und ihre früheren Patienten im Pflegeheim weiter betreut. Das nachgewiesene Ziel ihres Tuns – je länger die Besuche stattfinden, umso mehr erhöht sich die Anzahl der Patienten, bei denen nur Dentalhygiene notwendig ist.
Es gibt jedoch anfangs einige Themen zu klären: Im Pflegeheim muss mit der Geschäftsleitung gesprochen werden, es muss ein Raum vorhanden sein, die Pfleger müssen involviert sein, da sie für die Oralhygiene tagtäglich zuständig sind und den Patienten dazu ermutigen, überhaupt einen weiteren Termin bei ihr zu vereinbaren.
Auf Nachfrage wollen ältere Menschen zu Hause, also in der gewohnten Umgebung vom Zahnarzt behandelt werden. Um das zu realisieren, braucht es ein ebensolches, vorbildliches Konzept.
Versorgungslücke in der Seniorenzahnmedizin
Bei einer Live-Schalte nach Köln beleuchtete PD Dr. Dr. Greta Barbe, dass die Versorgungslücke in der Seniorenzahnmedizin bereits beim Putzen beginnt. In Köln wurden zahlreiche Studien durchgeführt, um den Schlüssel für die optimale zahnmedizinische Betreuung betagter Patienten zu entwickeln. Sie wünscht sich eine «Hilfestellung für Fremdputzer» und dass individualisierte Hygiene-
konzepte gefunden werden, um die Versorgungslücke zu schlies-sen. Die Kommunikation zwischen den Berufsgruppen muss verbessert und Konzepte individualisiert und integriert werden, mit dem Ziel weniger Schmerzen und eine bessere Kaufunktion für die Patienten.
 

Wie kann Telemedizin helfen?
Kann die Telemedizin einen Beitrag zur Mundpflege von abhängigen Patienten leisten? Dieser Frage ging Dr. Nicolas Giraudeau von der Universität Montpellier auf den Grund, der als weltweiter Pionier auf diesem Gebiet gilt.
Er sieht Telemedizin als ein Tool, um die öffentliche Gesundheit zu verbessern. Es können damit nicht nur ältere, sondern auch behinderte oder wirtschaftlich oder geographisch Vernachlässigte betreut werden. Man darf aber nicht vergessen, dass für die Nutzung der Online-Module ein Zugang gesichert sein muss, damit es nicht wegen fehlendem Equipment oder Internetverbindung wieder zu Ungleichheit kommt.
«Wir können uns das Tool zu Eigen machen. Denn wenn Sie es nicht tun, machen es andere.» Giraudeau prognostiziert, dass sich das Arzt-Patienten-Verhältnis zu einem Dreiecksverhältnis entwickeln wird, wo die Technik auch eine grosse Rolle spielt. Es ist allerdings ein anderer Behandlungsweg, der eventuell für den klassischen Zahnarzt schwer umzusetzen ist, da der Patient nicht auf dem Stuhl liegt. Aber: Telemedizin ist nur dann gut, wenn sie etwas Zusätzliches bietet. Sie muss angepasst werden auf die Bedürfnisse des Patienten, der verschiedenen Akteure und auf die Kultur des jeweiligen Landes

Anästhesie und kognitive Dysfunktionen
Was bedeutet eigentlich «alter Patient»? Als Senioren werden Menschen ab 65 bezeichnet. Aber «Alter ist nicht gleich Alter und die Technik hat sich in allen Bereichen stark weiterentwickelt», weiss Prof. Beatrice Beck Schimmer. Wie sieht es mit einer Vollnarkose aus? Ihrer Erfahrung nach ist sie bei Patienten mit kognitiver Dysfunktion kein «no go». «Wir haben gar keine Alternative!» Es gilt das Risiko präoperativ zu miniminieren und vor der OP mit dem Patienten zu sprechen. «Suchen Sie ihren Anästhesisten gezielt aus und schauen Sie, wen Sie für Ihre Patienten einsetzen wollen», rät Prof. Beck Schimmer.

Mundgesundheit im Fokus
Die nächste Live-Schalte ging zu Prof. Peter Svensson nach Dänemark. «Orale Gesundheit mit Fokus auf die Funktion» war sein Referatsthema.
Weitere Vorträge am Freitag befassten sich mit dem «Oralen Mikrobiom und allgemeiner Gesundheit» mit Prof. Dr. Frauke Müller. Das orale Mikrobiom ist die Summe aller genetischen Informationen, die man in der Mundhöhle findet. Es ist sehr individuell zusammengesetzt – es wird auch vom mikrobiellen Fingerabdruck gesprochen. Das Orale Mikrobiom hat Auswirkungen in Bezug auf diverse Krankheiten. Heute gibt es Beweise dafür, dass es Zusammenhänge gibt zwischen dem Oralen Mikrobiom und Mundhöhlenkrebs, Diabetes, Übergewicht etc. «Wir wissen noch nicht alles, sondern stehen am Anfang einer enormen Forschungsarbeit. Zur Mikrobiom-Analyse gibt es zwar heute gute Methoden, wir wissen aber noch nicht genügend über die Zusammenhänge mit der allgemeinen Gesundheit. Deshalb wünschen wir uns noch mehr Forschungsarbeit», formuliert Prof. Müller.

Polypharmazie und Multimorbidität
Zum Abschluss des ersten Tages referierte Prof. Dr. Michael Bornstein über «Polypharmazie und Multimorbidität – eine Herausforderung auch für die orale Gesundheit». Bei Patienten ab 60 Jahren aufwärts muss sich ein Zahnarzt bewusst machen, dass diese zwar rüstig sind und in die Praxis kommen können, aber Multimorbidität und Polypharmazie relevante Probleme sind. Deshalb ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin und Medizin enorm wichtig, um Komplikationen zu vermeiden oder zu managen. Dabei muss man wissen, dass das eine dynamische Komponente hat. Es ist nicht damit getan, dass ein Patient irgendwann mal einen Anamnesebogen ausgefüllt hat.
An jedem Zahn hängt ein Mensch, aber auch an jedem Zahn hängt die ganze Mundhöhle. Und Zahnärzte sind diejenigen, die die Mundhöhle am ehesten inspizieren können. Schleimhautveränderungen häufen sich im Alter oft. Bei Kindern entdeckt man eher Aphten, im Alter steigt die Gefahr eines Malignoms. Ältere Patienten sind oft positiver eingestellt und vielleicht sogar resilienter gegen manch eine Unwägbarkeit im Alter. «Man kann gut mit ihnen arbeiten, trotz teils erschwerten Bedingungen», motiviert Prof. Bornstein die Kongressteilnehmer.

Betreuungskonzepte
Am Samstag fand am Vormittag eine Parallelsession für die japanischen Zahnärzte statt. Durch das grosse Engagement der japanischen Gesellschaft war es gelungen, mehr als 100 Teilnehmer aus Japan zum Kongressbesuch zu motivieren. Der parallele Themenblock «Betreuungskonzepte» begann mit Dr. Willy Baumgartner, Past-Präsident der SSGS, der das Züricher Pilotprojekt «AZPA» vorstellte und auf die Entwicklung der Dentalhygiene in den vergangenen Jahrzehnten zurückblickte. Ziel des Projektes AZPA: Professionelle Mundhygiene in Pflegeheime bringen. Denn Zahnmedizin bekommt nach seiner Aussage beim Heimeintritt eine andere Zielsetzung: «Dort wo man nichts mehr machen kann, dort gibt es viel zu tun.»

Mundtrockenheit und Mundgeruch
Prof. Dr. Andreas Filippi (Basel) beschäftigte sich im Anschluss mit seinem Lieblings-Thema Mundtrockenheit und Mundgeruch und was man dagegen machen kann. Er stellte sein komplexes Stufenkonzept kurz vor. Eine gute Nachricht: Mundgeruch kann in den meisten Fällen vermieden werden.
Genügend Speichel zu haben ist wichtig für unser aller Leben, es schützt vor oralen Erkrankungen, wie Mukositis, Pilzinfektionen, Karies, Erosionen und Halitosis. Der Speichelfluss nimmt jedoch mit zunehmendem Alter ab, Frauen sind davon häufiger betroffen als Männer. Polymedikation kann zur Speichelreduktion führen. Die Zunge wiederum kann Spiegel der psychischen Situation des Patienten sein. Radiotherapie und Chemotherapie haben negative Auswirkungen.
Speichel unterstützt das Kauen und Schlucken und schützt damit auch vor Verdauungsstörungen. Ausserdem schützt Speichel vor subjektiven Problemen, wie Zungenbrennen, Mundbrennen und trockenen Lippen, was alles als sehr unangenehm empfunden wird, – aber auch vor lästigen Geschmacksstörungen. Auch die Sprache wird durch einen trockenen Mund negativ beeinflusst.
Zusammenfassend hat ausreichend Speichel einen sehr grossen Einfluss auf unsere Lebensqualität.
Nicht nur im Anschluss an diese Vorträge, sondern während des gesamten Symposiums wurden die Paneldiskussionen zur jeweiligen Session gerne genutzt, um den Referenten Fragen zu stellen und nachzuhaken. Die Referenten und Moderatoren hatten so die Gelegenheit, die gesamte Thematik weiter zu vertiefen.

Fazit
Ein grosser Erfolg für den mit viel Enthusiasmus organisierten, aufgrund der aktuellen Situation mehrfach umgeplanten und mit viel Herzblut durchgeführten Kongress. Ein überzeugendes Team-Work von vier wissenschaftlichen Leitern, über 20 Referenten, erfahrenen Moderatoren und professionellen Dolmetschern, die zwei Tage lang einen perfekten Job gemacht haben. Einen grossen Beitrag zum Erfolg hat auch das Technik-Team geleistet.
Trotz der professionellen Durchführung und qualitativ hochwertigen Wissensvermittlung hoffen nicht nur die Veranstalter, dass das 4. Internationale Gerodontologie Symposium dann wieder live in Bern stattfinden kann.

Die Inhalte sind noch für drei Monate online abrufbar. Hier geht es zur Buchung:

https://www.bern-co.com/event/3rd-international-gerodontology-symposium-bern/

Text: Carmen Bornfleth