22. Aug. 2025Interview

Von der Prothetikerin zur Gerodontologin

Ob Implantatprothetik bei Pflegebedürftigen, digitale Innovationen oder interprofessionelle Zusammenarbeit: Prof. Dr. Frauke Müller hat die Gerodontologie entscheidend mitgeprägt – fachlich, politisch und menschlich. Im Gespräch mit der ZZS blickt sie auf zwei Jahrzehnte als Professorin für Gerodontologie und abnehmbare Prothetik an der Universität Genf zurück. Ein Gespräch über Meilensteine, Missstände und die Macht des Zähneputzens.

Müller-Genf
: 4kclips /stock.adobe; Müller
Prof. Dr. Frauke Müller stellte sich im Interview unseren Fragen und spricht über ihre Karriere im Dienst der Alterszahnmedizin.

Frau Professor Müller, wenn Sie auf Ihre jahrzehntelange Laufbahn zurückblicken – was waren für Sie persönlich die wichtigsten Meilensteine?
Mein Umzug nach Genf und die Übernahme des Lehrstuhls für Gerodontologie und abnehmbare Prothetik waren sicherlich wichtige Meilensteine. Trotz meiner Spezialisierung in Prothetik wurde ich auf einmal vor ganz neue Herausforderungen gestellt, denn in Deutschland war ich nur selten mit hospitalisierten und im Heim lebenden Patienten konfrontiert. Hier habe ich Pathologien und Mundbefunde gesehen, die ich mir früher nicht vorstellen konnte. Auch ist die Behandlung ungleich schwieriger, wenn der Patient nicht mehr kollaborieren kann. Kurz gesagt, ich bin von einer eingebildeten Prothetikerin zu einer sehr bescheidenen Gerodontologin geworden.

Was hat Sie ursprünglich zur Gerodontologie geführt – einem Fachgebiet, das lange ein Nischendasein fristete?
Das waren meine Patienten. Schon damals als Assistentin an der Prothetik der Uni Bonn wollten die älteren und alten Patienten immer gerne von mir behandelt werden. Ich mochte sie sehr gerne, und mag sie immer noch, und ich glaube, das merken sie.

«Die Behandlung ist ungleich schwieriger, wenn der Patient nicht mehr kollaborieren kann.»

Welche Herausforderungen haben Sie in Ihrer Rolle als Professorin und Klinikleiterin besonders beschäftigt?
Einige – zumal ich die erste Professorin (Abteilungs-, Departementsvorsteherin, Präsidentin) an der Zahnklinik Genf war. Die deutschsprachigen Professoren haben mich mit offenen Armen aufgenommen und unglaublich unterstützt, die französischsprachigen Kollegen haben mich im besten Fall ignoriert. Ich habe das weggelächelt, oder mit einem charmanten «isch verstehe nischt…» beantwortet. So konnten wir uns in unserem Nischenfach sehr gut entwickeln. Französisch kann ich übrigens bis heute nicht richtig…

Welche Entwicklungen in der zahnmedizinischen Betreuung älterer Menschen haben Sie in Ihrer Karriere besonders geprägt?
Zwei Entwicklungen sind in meinen Augen bahnbrechend. Zum einen erlaubt die Implantologie einem älteren Patienten mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten, reduzierter Neuroplastizität und schwierigen anatomischen Verhältnissen einen Zahnersatz mit guter Kaufunktion. Wir dürfen nicht vergessen, dass die «heutigen» Zahnlosen im Schnitt 20 Jahre älter sind als früher. Zum anderen ist es die Digitalisierung der Prothetik, die die althergebrachten Dublierverfahren obsolet macht. Abformungen sind viel angenehmer, die Kosten geringer, und wenn der notorische Anruf aus dem Heim kommt, dass die Prothese verloren gegangen ist, dann kann mit einem Klick ein identischer Zahnersatz hergestellt werden.


Gibt es ein Projekt oder eine Initiative, auf die Sie besonders stolz sind?
Besonders stolz bin ich auf meine Zeit als Präsidentin der Gleichstellungskommission. Wir konnten etliche spannende Projekte mit grosser Visibilität aufgleisen, und ausserdem den Anteil der Professorinnen signifikant verbessern. Es ist grossartig, wenn man «Gestalten» kann und die Dinge zum Besseren wenden.

«Studien bestätigen schädlichen Einfluss von oralen Entzündungen auf den Gesamtorganismus.»

Was sind heute die grössten Herausforderungen in der Versorgung älterer und pflegebedürftiger Patientinnen und Patienten?
Die Mundhygiene ist ganz klar die grösste Herausforderung, wenn die motorischen Fähigkeiten und der Visus nachlassen und gleichzeitig Risikofaktoren wie Multimorbidität, Mundtrockenheit und ein unbändiges Verlangen nach Süssem vorhanden sind. Immer mehr Daten bestätigen den schädlichen Einfluss von oralen Entzündungen auf den Gesamtorganismus. Jeder zweite ältere Mensch leidet unter Schluckstörungen, da kann die bakterielle Belastung im Speichel schnell zu einer Aspirationspneumonie führen. Das Thema «Orale Hypofunktion» ist daher hochaktuell.

Wie beurteilen Sie die Rolle von abnehmbarer Prothetik in Zeiten von Implantologie und Digitalisierung?
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in der modernen Welt immer grösser und damit auch der Anteil an Patienten, die sich keine teuren Implantatversorgungen leisten können. Aber auch schon zwei, oder sogar ein Implantat im unteren Eckzahnbereich können bei einer Totalprothese eine signifikante funktionelle Verbesserung bringen. Der Effekt einer solchen Implantatprothese geht weit über den Mund hinaus – sie verbessert das Selbstwertgefühl und das soziale Leben der Prothesenträger signifikant. Ebenso bringt die Digitalisierung Vorteile – in finanzieller Hinsicht – aber auch unter vielen weiteren, eher funktionellen und klinischen Aspekten.

Was ist aus Ihrer Sicht essenziell, um Mundgesundheit im hohen Alter zu sichern?
Zähne putzen, Zähne putzen und nochmals Zähne putzen – und natürlich auch die Prothese putzen, die Schleimhäute putzen und nicht den Zungenrücken vergessen. Die Mundhygiene ist der Schlüssel zur guten Mundgesundheit im Alter.

Wie hat sich die studentische Ausbildung im Bereich der Gerodontologie in den letzten Jahrzehnten verändert – und wo sehen Sie noch Lücken?
Es wird heutzutage viel weniger Zahntechnik gelehrt, und dieses technische Know-how wird durch einen stärkeren Bezug zur Medizin ersetzt. Diese Entwicklung ist wichtig und geht in die richtige Richtung, denn der Mund ist ein wichtiger Teil des Körpers und nicht selten der Spiegel der Gesundheit. Lücken in der Ausbildung sehe ich noch in der Behandlung von Patienten im Heim. Die Betreuung pflegedürftiger Patienten ist einfach unglaublich schwer zu organisieren, und ist bisher auch noch nicht im Lernzielkatalog verankert.

Welche Bedeutung messen Sie der interprofessionellen Zusammenarbeit – etwa mit Pflege, Geriatrie oder Hausärzten – bei?
Alterszahnheilkunde ist definitiv Teamsache, schon allein was die Kommunikation angeht. Ohne Zusammenarbeit mit der Familie, den betreuenden Hausärzten und dem Pflegepersonal würden oft essentiell wichtige Informationen fehlen, was teilweise zu recht kritischen Situationen führen kann. Vor zwei Jahren haben wir daher Interprofessionalität in unseren Studentenunterricht aufgenommen, mit dem Ziel durch gute Kommunikation die Patientensicherheit zu erhöhen.

Wie sollte sich das Gesundheitssystem verändern, um vulnerable ältere Patientengruppen besser zahnmedizinisch zu versorgen?
Wichtig wäre es, dass die Betreuung eines älteren, pflegebedürftigen Patienten mit demselben Stundenlohn honoriert wird wie andere Fachgebiete. Japan ist ja eine super-aging society, mit all den entsprechenden gesundheitspolitischen Herausforderungen. Dort wird die Betreuung geriatrischer Patienten adäquat entlohnt, und es gibt ausreichend motivierte Kolleginnen und Kollegen, die sich diesem Fachgebiet widmen.

«In Heimen können Kontrolluntersuchungen durch Pflegefachkräfte gefilmt und andernorts befundet werden.»

Welche technologischen Entwicklungen sehen Sie als besonders relevant für Gerodontologie?
Die Digitalisierung wird die Gerodontologie revolutionieren. Dabei sind die Kosten ein entscheidender Faktor, bald wird es günstiger sein, eine neue Prothese zu drucken als eine konventionelle Unterfütterung durchzuführen. Dazu kommt die Möglichkeit vorhandene, vom CNS adaptierte Eigenschaften einer Prothese in die Neuversorgung zu übernehmen. Das erleichtert die Adaptation an den neuen Zahnersatz. Und auch die digitale Speicherung des Prothesendesigns bringt unschätzbare Vorteile. Darüber hinaus ist der Zugang zu zahnmedizinischen Dienstleistungen per Telemedizin interessant. In Heimen können Kontrolluntersuchungen durch Pflegekräfte gefilmt und anderenorts befundet werden. Und eines Tages, wenn es dann den «Kavitätomaten» gibt, von dem wir schon als Studenten geträumt haben… Erste Behandlungsroboter auf KI-Basis sind schon in der Testphase!

Wie wichtig ist Ihnen das Thema Ethik in der Behandlung hochaltriger Menschen – z. B. in Bezug auf Therapieentscheidungen?
Ethische Aspekte sind in der Behandlung aller Patienten wichtig. Bei älteren Menschen kommt hinzu, dass sie aufgrund ihrer geringeren Mobilität kein «Doktorshopping» machen können. Wenn Sie der einzige Mensch an einem Strand sind, der einen Ertrinkenden beobachtet, sind Sie ethisch stärker verpflichtet ihm zu helfen, als wenn noch mehrere andere potentielle Retter anwesend sind. Auf die Gerodontologie übertragen bedeutet das, dass wir noch stärker auf den Patientenwunsch eingehen müssen als bei autonomen Patienten. Und ja, das bedeutet Kompromisse, oft an der Grenze von «good clinical practice». Wenn diese gemacht werden müssen ist eine verständliche umfangreiche Aufklärung und eine gute Dokumentation unabdingbar. Es hilft, wenn die Patienten ihren Zahnarzt mögen und ihm vertrauen, dann nehmen sie «einfacher» einen guten Rat an.

«Wenn Patienten ihren Zahnarzt mögen und ihm vertrauen, nehmen Sie einfacher einen Rat an.»

Wie fühlt es sich an, ein berufliches Kapitel abzuschliessen, das Sie über Jahrzehnte geprägt haben?
Bisher ist das alles noch sehr ab-strakt und weit weg, das sehen wir dann, wenn es so weit ist.
Gibt es einen Ratschlag, den Sie der nächsten Generation mit auf den Weg geben möchten?
Schon immer meinte die ältere Generation der jüngeren Ratschläge geben zu müssen, und die haben noch nie darauf gehört. Jede Generation muss ihre eigenen schönen und schmerzhaften Erfahrungen machen, das können wir ihnen nicht abnehmen. Aber wenn ich unsere jungen Studenten und Kollegen sehe, dann bin ich sehr optimistisch: die brauchen unseren Rat nicht.

Worauf freuen Sie sich in der Zukunft am meisten?
Mal wieder richtig ausschlafen, das wäre grossartig.


Wir wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft und einen erfolgreichen Kongress in Genf!

Symposium zur Emeritierung von Prof. Dr. Frauke Müller:
Das Motto: «Eine Reise durch die Vergangenheit, eine Zukunft gestalten»

Am 29./30. August dieses Jahres steht in der Schweiz ein wissenschaftliches Highlight bevor: Das European College of Gerodontology (ECG) tagt gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Alters- und Special Care-Zahnmedizin (SSGS) in Genf.

Übergabe an nächste Generation
Vor genau 20 Jahren fand dort die erste gemeinsame Tagung der beiden Fachgesellschaften statt. Damals hatte Prof. Dr. Frauke Müller gerade den Lehrstuhl für Alterszahnmedizin und abnehmbare Prothetik an der Universität Genf übernommen. Die Jahre sind verflogen – es scheint wie gestern. Doch der diesjährige Kongress markiert ihre Emeritierung und die Übergabe des Lehrstuhls an die nächste Generation.

Mehr als abnehmbare Prothetik
Das Programm ist ausgesprochen international und spiegelt die gros-se Bandbreite der Gerodontologie wider. Ein besonderer Fokus liegt auf den klinischen Aspekten der Betreuung älterer PatientInnen. Dank der Fortschritte in der Zahnmedizin – insbesondere im Bereich der Prävention – verschiebt sich der Zahnverlust zunehmend in höhere Altersgruppen. Entsprechend stehen Teilprothese und ihr Nachsorgebedarf, aber auch Wurzelkaries sowie Ernährungsfragen im Zentrum des Kongresses.
Eine neu entwickelte, personalisierte App soll sowohl PatientInnen als auch Pflegepersonal bei der Mundhygiene unterstützen. Durch den Erhalt natürlicher Zähne bis ins hohe Alter nehmen zudem Abrasionsgebisse zu. Hier stellt sich die Frage: Muss interveniert werden oder genügt eine Beobachtung? Gibt es altersgerechte restaurative Konzepte?
Gerodontologie ist jedoch weit mehr als nur abnehmbare Prothetik. So behandelt das vielfältige Programm auch Themen wie Schluckstörungen und orale Hypo-
funktion. Auch gesundheitspolitische Aspekte werden beleuchtet.
Der Kongress wird durch eine Posterausstellung ergänzt. Abstracts können noch bis Anfang Juni eingereicht werden. Prof. Dr. Frauke Müller und die SSGS freuen sich darauf, zahlreiche KollegInnen und FreundInnen zu dieser spannenden internationalen Konferenz in Genf begrüssen zu dürfen.


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