Die perfekte Praxis: “Toxic Positivity” ist schädlich!
Ich sehe sie entzückt mit hübschen Blumen am Waldrand, an denen sie ihre glückliche Seele nährt. Ich erlebe ihre glückliche Verbundenheit mit ihren Herzensfreunden, mit denen sie bild-(schirm)schöne Häppchen kocht. Ich erfahre von ihrem so geglückten Seminar an einer idyllischen Feriendestination mit glücklichen Teilnehmenden und zur Glücklichkeitskrönung noch ein überschäumendes Feedback einer ihrer begeisterten Kundinnen.
Wie glücklich diese Frau ist. Welch Glück sie sich jeden Tag neu beschert und wie vorbildlich, dass sie sich nur auf die positiven Dinge im Leben zu fokussieren weiss.
Ich tauche wieder auf – raus aus Social Media, rein in meinen Arbeitsalltag. Glücklicher bin ich durch ihren Morgengruss nicht geworden – im Gegenteil. Ich sitze im Büro, einen Stapel Arbeit vor mir, keine strahlende Blume am Wegrand und gerade kein Kunde hier, der sich in Freudentränen ergiesst. Nur Arbeit, Fleiss, Pflicht, irgendwo eine Prise Leidenschaft.Ihr Blog liegt mir auf dem Magen. Bin ich neidisch auf so viel Glück? Keinesfalls.
Perfektion als Ziel?
Mein Gefühl ähnelt eher dem, das bei mir aufkommt, wenn ich zu viel Süsses gegessen habe. Dann ist es zu viel des Guten und mir wird übel. So fühle ich mich nach so viel glückseligem Positivitätsgeplänkel. Dabei bin ich auch eine Selbst-
optimiererin, Potenzialentwicklerin, Selbstmanagerin, Selbstkritik erlaubt. Doch das Steben nach Perfektion ist nicht das Ziel, sondern Stress.
Was läuft in Ihrer Praxis gerade nicht so rund? Freuen Sie sich darüber! Das ist das echte Leben, das ist nicht perfekt. Es ist zwar löblich, stets das Gute zu sehen. Doch es gibt einen Unterschied zwischen gesundem Optimismus und toxischer Positivität: Optimisten sind wohltuend. Toxisch-positive Menschen hingegen zeigen nur ihre perfekte superselbstoptimierte Seite, sind aalglatt, für andere nicht greifbar und nicht unbedingt sympathisch. Weil: Nicht empathisch und nicht echt.
Das wahre Leben
Wenn ein Patient einer Dentalassistentin traurig berichtet, dass seine geliebte Grossmutter verstorben ist und sie ihm toxisch-positiv entgegnet «Alles im Leben passiert aus einem bestimmten Grund und hat einen Sinn», dann ist das weder tröstend, noch verständnisvoll, noch empathisch. Zugegeben, dieses Beispiel ist vielleicht nicht ganz realitätsnah. Näher kommt folgende Situation: Der am Boden zerstörte Praxismanager wurde gerade von seiner Chefin heftig kritisiert und seine Kollegin reagiert fröhlich mit: «Es gibt Schlimmeres im Leben. Don’t worry, be happy». Auch nicht empathisch. Oder Sie hören: «Du musst Dich nur auf das Positive konzentrieren. Denk nicht weiter darüber nach und bleib positiv.» Gut gemeint – ist oft das Gegenteil von gut gemacht.
Toxische Positivität
Es ist nichts gegen eine gesunde optimistische Lebensweise einzuwenden. Positivität kann das Leben sehr erleichtern. Toxische Positivität ist jedoch ein übertrieben positives Denken, welches den Menschen negative Gefühle untersagt. Ich kann mir selbst gegenüber auch toxisch positiv sein: «Ach, es macht mir nichts aus, dass ich übergangen wurde. Es gibt Wichtigeres im Leben». Oder: «Nicht aufgeben, ich schaffe das. Mit der richtigen Einstellung geht alles.» Solcher Zweck-Optimismus kann ungesund sein, da er Gefühle verdrängt. Es gehört zum Leben, dass es auch mal schiefläuft und schmerzt. Nur wenn ich unangenehme Gefühle zulasse, kann ich lernen, auf gesunde Weise damit umzugehen.
Vorsicht vor dem Virus
Bleiben Sie entspannt, wenn in Ihrer Praxis nicht alles perfekt läuft, stehen Sie zu Ihren schwierigen Gefühlen. Und seien Sie gewarnt vor Social Media, dort grassiert der Toxic-Positivity-Virus ganz intensiv. So bleiben Sie nicht nur echt, sondern auch gesund.
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