Führungsverantwortung – ein Teilzeitjob

Die Geschäftsleitung einer Klinik, bestehend aus Medizinerinnen und Medizinern, sass mir gegenüber, um ihren Bedarf an Coaching zu diskutieren. Im Fokus stand nicht die zukünftige Ausrichtung der Klinik, sondern vielmehr der Umgang mit der herausfordernden Situation des Personals.

ZZS

Diese werde zunehmend schwieriger, Spannungen häufen sich. Die Klinik läuft gut, stetiges Wachstum aufgrund steigender Nachfrage. Modernisierungen wurden fortlaufend getätigt, Personalbestand wurde aufgebaut, Organigramme angepasst.  Und doch läuft es irgendwie nicht mehr gut. Um der Sache auf die Spur zu kommen, stellte ich folgende Frage: «Wieviel Prozent Ihres operativen Tagesgeschäftes entfallen auf die Führung?» Ich erntete fragende Blicke und wiederholte meine Frage. Immer noch Stille und dann eine zaghafte Antwort: «Na ja, wir machen unsere Sitzungen an den Abenden, wenn wir Zeit haben, denn tagsüber arbeiten wir am Patienten.» Meine Feststellung: «Somit arbeiten Sie zu 100 % im Tagesgeschäft und es bleibt keine Zeit für Führung, weil Fulltime-Job Arzt.» Zur Verteidigung hörte ich Argumente wie: «Wir sind gut organisiert und unser Sekretariat ist für die Personalbelange verantwortlich.»  
Ein anderer Fall: Eine von vielen gutgehenden Zahnarztpraxen. Zitat des Praxisinhabers: «Wenn mich doch bloss alle (Mitarbeitenden) in Ruhe lassen würden, damit ich endlich ungestört am Patienten arbeiten kann. Ich will mich nicht ständig um alle Sorgen im Team kümmern müssen, alles landet immer bei mir.»

Betriebsführung als Herausforderung

Fakt ist, dass alle Betroffenen fachlich hochqualifizierte MedizinerInnen sind, die nach bestem Wissen und Gewissen führen. Aber führen sie wirklich oder arbeiten sie nur in der Praxis? Im Unterschied zu einem Angestellten haben Sie als InhaberIn und UnternehmerIn die zusätzliche Verantwortung der Betriebsführung. Diese geht weit über die Patientenversorgung hinaus und erledigt sich nicht von allein. Entweder Sie investieren Zeit und Geld in Führung oder Sie investieren Zeit und Geld in Personalprobleme. Fachwissen in Führung ist aus UnternehmerInnensicht heute mindestens so wichtig wie Fachwissen in der Medizin. Aber mit einem Führungstraining allein sind nicht gleich alle Probleme behoben.
Würden Sie sich trauen, ohne entsprechende Ausbildung eine Patientin zu behandeln, nur weil Sie von Ihrem Vorgänger mitbekommen haben, wie er das gemacht hat? Wohl kaum. Im Gegenzug trauen sich viele Unternehmer-Innen die Führung zu, ohne sie bewusst erlernt oder zumindest selbstkritisch reflektiert zu haben. Einigen gelingt gute Führung, weil sie ein Gespür dafür entwickelt haben und sie sich Zeit nehmen. Andere scheitern, weil sie sich nicht bewusst sind, welche Erfolgsfaktoren entscheidend sind.
Die Klinikgeschäftsleitung hat unterschätzt, dass man Mitarbeitende nicht nur organisieren muss, sondern dass man Zeit investieren muss, um in Beziehung zu treten und zu bleiben. Viele Zahnarztpraxen haben noch nicht verinnerlicht, dass nicht nur PatientInnen, sondern auch Mitarbeitende Aufmerksamkeit und eine gute Behandlung brauchen. Viele PraxisinhaberInnen sind sich ihrer verschiedenen Rollen zu wenig bewusst: Sie sind nicht nur hart arbeitende MedizinerInnen, sondern auch UnternehmensführerInnen. Als MedizinerIn übernehmen sie die Verantwortung für die Gesundheit der Patienten. Als LeaderInnen übernehmen sie die Verantwortung für Mitarbeitende und ihren Betrieb.
Die Personalherausforderungen werden auch in Zukunft bleiben. Es hängt heute umso mehr davon ab, wie Sie damit umgehen. Mitarbeiterführung gilt als Kernkompetenz in Zeiten von Fachkräftemangel. Und so fragen Sie sich nicht, ob Ihnen eine Führungsausbildung das Personalproblem löst, sondern sehen Sie Führungsentwicklung als eine existenzielle Grundvoraussetzung für Ihren Unternehmenserfolg. Fragen Sie sich lieber, welches Teilzeitpensum Sie sich zukünftig für Ihre Führungsaufgabe freihalten.